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COPACABANA

Samstag, 23.07.2011

und die nÄchste Grenzerfahrung

„Y ahora“, sagt er da mit brummiger Stimme und macht dabei eine effektvolle Pause - „dame un poco plata!“ (und jetzt - gib mir ein bisschen Geld). Georg und ich schauen uns verblüfft an: „Que? Perdon, como??“(Was? Entschuldigung, wie bitte?), sprudelt es da zeitgleich verdutzt aus unseren Mündern.

Der etwa 40-jährige peruanische Polizeibeamte am Grenzübergang zu Bolivien grinst uns selbstgefällig und arrogant an, während er über unseren einwandfreien Dokumenten sitzt: „Por la colaboración“ (für die Zusammenarbeit), sagt er da allen Ernstes und schaut uns streng in die Augen. „Que es eso? Por favor, disculpe, me falta esta palabra“ (Was ist das? Bitte, Entschuldigung, mir fehlt dieses Wort) lüge ich ihm schamlos ins Gesicht, er hat´s nicht anders verdient. Da wird er nur allzu deutlich, reibt mit Zeige- und Mittelfinger am Daumen, das kosmopolitische, unmissverständliche Zeichen für schnöden Mammon, schlägt mit der flachen Hand geräuschvoll auf den Tisch und schiebt ein cholerisch-dröhnendes „DINERO!“ hinterher. Wir sitzen in seinem engen, stickigen Büro - rechts von uns läuft ein Fußballspiel im Fernsehen, links dudeln Panflöten aus dem Radio - und können nicht glauben, wie ungeniert er uns nach Schmiergeld frägt. Uns Beiden entkommt ein empörtes, ebenso lautes „PORQUE?“!! (Warum?). Postwendend entgegnet er etwas gedämpft „Por los documentos“, deutet frech nach hinten, wo sein Kollege lässig im Türrahmen lehnt und bestätigend ultraintensiv mit dem Kopf nickt, die Augen respektlos stur auf die Glotzkiste geheftet.

Wir entgegnen ruhig, aber in schneidendem Ton: „NO! - Es ILLEGAL!“.
Gut, bei dem Wort zuckt er endlich mal zusammen, schüttelt den Kopf, ich erwarte schon Schlimmes, Auto einmal ausräumen, drei Stunden Zwangsaufenthalt oder Ähnliches, doch nichts dergleichen passiert. Er wiegt nur immerzu seinen dicken puterroten Kopf nach links und rechts, ein bisschen spastisch das Ganze, drückt schwer ausatmend den Stempel auf´s Papier, der Autist im Türrahmen springt derweil von einem Bein auf´s andere. Doch wir sagen „Listo!“, immerhin sind schon alle Dokumente fertig, drehen uns um und gehen hoch erhobenen Hauptes hinaus. So ein Saftladen!

Damit wären wir also aus Peru ausgereist, wir fahren zur bolivianischen Seite. Wieder Stempel in den Pass (auf Nachfrage sind 90 Tage kein Problem), dann zum Zoll. Erst mal müssen wir für den zackigen Senor seine eigenen Formulare kopieren, sechs Stück bräuchte er für die Abwicklung. Klingt komisch - wir wissen, er braucht für uns nur eins - ist aber so. Wir gehen also zum Copy-Shop um die Ecke (1 Kopie =1 Boliviano) und geben ihm anschließend die gewünschten Papiere. Nach ein wenig Small-Talk trauen wir unseren Ohren nicht, als der Beamte, in schicker rotbrauner North-Face-Daunenjacke steckend, uns keine 90 Tage für das Auto hineinsiegeln will. „No puedo, amigos! Aqui solo 30 dias.“ (Ich kann nicht, Freunde. Hier nur 30 Tage) kommt gedehnt aus seinem Mund. - Bullshit! Natürlich kann er uns so viel Tage geben, wie er möchte, er ist ja der Zollmeister. Das bringen wir zum Ausdruck, sind verärgert, er weiß ja bereits durch den Pass, dass wir nach drei Monaten verlangt haben (man weiß ja nie).

Plötzlich lächelt er uns an, wie ein Wolf im Schafspelz, säuselt ein „Ok. Con un poco dinero...quizas...(mit etwas Geld...vielleicht)“. - Das ist jetzt die Höhe! Auch er will Bares, für seinen ganz normalen Job! Wir können es nicht fassen und schon aus Prinzip kriegt er nichts! Da sind wir uns einig! Geht’s eigentlich noch?! Deutlich und in aller Schärfe verklickern wir ihm das, wir haben ein Recht auf 90 Tage und sollte er nicht kooperieren, würden wir das melden. Auch ihm geht beim lieblichen Wort „illegal“ das rechte Augenlid runter, ein bisschen windet er sich, wiegelt sofort schief lächelnd ab „Ah, amigos, solo una broma!“ (ach, Freunde, nur ein Scherz!), holt den geforderten Stempel aus dem Fach und auf einmal scheint alles reibungslos zu funktionieren.

Als letzter Gang steht nun der zur bolivianischen Polizei an, wir müssen uns noch für den Transit anmelden. Fast können wir die Hütte nicht finden, es ist die letzte Bruchbude auf der linken Seite, doch als wir eintreten grinsen uns vier Bullen merkwürdig „neue-Opfer“-mäßig an. „Buenas tardes!“. Alles klar, denken wir, doch für den Augenblick scheint alles seine Ordnung zu haben. Der uniformierte Herr mittleren Alters ist höflich, nett und zuvorkommend, frägt nach Autofarbe, Fahrzeugschein und Reisepass, notiert Nummern und Namen sorgfältig im linierten A4-Buch vor sich.

„Listo!“, tönt es da, wir glücklich, wenigstens einer nicht korrupt, da streckt er uns die Hand hin. In der vagen Hoffnung, er meint es nicht so, lege ich meine hinein, ein Handschlag zur Verabschiedung? „No, no, no, no, no!“, seufzt es da aus ihm heraus, ein Schnalzer mit der Zunge folgt: „Un donación, los senores, por favooor!“ (Eine Spende, die Herren, biiitte!). Und - wieder: das darf doch nicht wahr sein?! Wo sind wir denn hier? Im Wunschkonzert? „Pero pooorque?!“ zischt es da frostig aus meinem Mund. Welch Unverfrorenheit! Und wird noch nicht mal rot dabei! - „Por el trabajo!“ (für die Arbeit!), jammert er. - „Por el trabaaajo???“ wiederhole ich langgezogen und ironisch-feindselig, der spinnt wohl! So eine Dreistigkeit gleich dreimal hintereinander ist uns im gesamten Reisejahr noch nirgends widerfahren.

Erneut fällt das Zauberwörtchen illegal, woraufhin er recht kurzatmig entgegnet „No! No es obligatorio! - Es voluntario!“ (Nein, nein, ist nicht verpflichtend. - Freiwillig!). Pah, wie frech, von wegen freiwillig: „Pero, senor, yo no quiero pagar, entonces es obligatorio, si o no?!“ (Aber Senor, ich will nicht zahlen, also ist es verpflichtend, ja oder nein?). Da macht er eine abwiegelnde Geste mit der Hand, schüttelt Drama-King-verzweifelt das schüttere Haar und bedeutet uns unwirsch, zu gehen. „Listo!“.

Innerlich kochend vor so viel unverschämter Anpumperei laufen wir zum Auto zurück, das immer noch vor der Schranke zum neuen Land Bolivien steht. Als wir daran vorbeigehen, grinst uns der Zollbeamte von vorhin unsagbar provozierend ins Gesicht und meint schmallippig: „No, amigos, no pueden manejar!“(Nein, Freunde, ihr könnt nicht fahren!) - ein bisschen dauert´s bei uns beiden, dann platzen wir heraus „Y porque no?“- da lacht er uns aggressiv herausfordernd entgegen „Porque yo tengo las claves.“ Pause - deutet auf einen selbstgedruckten Zettel mit Schranken-Öffnungszeiten an seiner Bürotür, den wir vorher noch nicht gesehen haben: „Y es la una y dos minutos“, schiebt er schnippisch hinterher (Weil ich die Schlüssel habe und es ist zwei Minuten nach eins). Wir lesen den Schwarz-Weiß-Anschlag: 8.00 – 13.00, 14.00 – 18.00!

Na klasse. So ein Dreckschwein! „Bueno!“ rufen wir ihm lauthals zynisch zu: „Entonces esperamos una hora aqui! No problema!“ (Gut! Dann warten wir eben eine Stunde hier, kein Problem) und ich schiebe sarkastisch hinterher „Bienvenidos a Bolivia!“(Willkommen in B.), Georg ebenso ausser Rand und Band, fügt an „es un buen premier impression de Bolivia! Gracias, senor!“ (Ein toller erster Eindruck von Bolivien, Danke, der Herr!) und ich sehe seine Halsschlagader pumpen.

Der Herr guckt erstmal schief, verzieht sein Gesicht dann zu einem merkwürdigen Lächeln, schleicht zur Schranke, sperrt sie auf und winkt uns abfällig mit den Worten „Amigos, PASEN!“ durch. (Freunde, FAHRT DURCH!). Weder er noch wir sind scharf darauf eine gemeinsame Stunde zu verbringen, gell, FREUNDCHEN!

Nun sind wir also in Bolivien, völlig schockiert über die hiesigen Gepflogenheiten, denn unser Bock auf „Collaboration“ geht gegen Null!
Und eine Spende von mir gibt’s sowieso nur an den WWF! - Ok, und an UNICEF.

LA PAZ

Samstag, 23.07.2011

NÄchstes Problem

Kaum sind wir drin im Land, reicht es mir auch schon fast wieder. Ist jetzt vielleicht ungerecht, da wir auch vier idyllische Tage am glitzernden See verbrachten, denn wir campten wild beim Ort Copacabana, gönnten uns am Titicacastrand ein feudales Abendessen mit gebratener Forelle, Salat, Wein und ein paar abschließenden Cocktails und waren begeistert über die wirklich günstigen Preise (zusammen 95 Bolivar = 9,50 Euro).

Doch bereits als wir den kleinen Touristenort wieder verlassen, sehen wir vor uns eine private Straßensperre auftauchen - genau in dem Moment überholt uns ein wahnwitziger Laster mit 110 Kmh, rast in die Blockade hinein, die orangen Hütchen fliegen zu allen Seiten, wir konzentrieren uns nur darauf, jetzt keinen Unfal zu bauen und die Bewaffneten sind so verdutzt, dass sie uns nur hinterherschauen. Zwar sehe ich im Rückspiegel eine gezückte Waffe, doch nichts passiert. Somit Glück im Unglück. Keine 30 Kilometer später müssen wir 10 Bolivianos löhnen für einen angeblichen Nationalpark, durch den wir jetzt auf Asphalt fahren. Wenigstens scheint alles seine Ordnung zu haben, wir bekommen auf Nachfrage eine tadellose Quittung für den Betrag. Kaum in La Paz angekommen geht der Ärger weiter. Mit dem letzten Tropfen Diesel fahren wir eine Tankstelle kurz vor der empfohlenen Werkstatt von Ernesto Hub an. „Iieno, por favor“ (Volltanken, bitte) sagen wir, da entgegnet der gemütliche Tankwart, auf seinem Namensschild steht "Fernando" eingraviert:

„No. - No puedo!“. Stille, Fernando guckt weg. Ich erkundige mich höflich, warum er denn nicht könne, "No hay diesel?" (gibt’s wohl keinen Diesel mehr?) - "Si, si, no es la problema..." Doch, doch, gibt´s schon, meint er da gelassen, jedoch nicht für uns Ausländer! - "Como?" (Wie bitte?), fragen wir da, und können es nicht glauben. Ist aber so, „es la verdad“, meint er da, der „Presidente“ hat ein Gesetz erlassen, Fahrzeuge mit ausländischem Nummernkennzichen dürfen nicht mehr befüllt werden. Uns steht das Fragezeichen ins Gesicht geschrieben! Wie kann das sein? „Es broma, no?!“ (kleines Scherzle g´macht, oder?) „No.!“, "nein, nein, er könne da nichts machen" murrt er da, aber wir könnten ja in die Berge fahren, nach Paraguay, dort würden sie uns welchen geben! Wie lustig!

Das sitzt. „Fernando...", versuche ich es nochmal mit Engelszungen "Que debo hacer? Empujar? - Necesitamos diesel, eso es la verdad!" (Fernando, was soll ich machen? Schieben? Wir brauchen den Diesel, das ist die Wahrheit!) - „Keine Ahnung“, kommt reserviert aus Fernandos Mund, „ist ja auch nicht mein Problem!“ Autsch. Laut Navi gibt’s in der näheren Umgebung noch üppige zwei weitere Tankstellen, wenn wir bei denen kein Glück haben, sind wir in La Paz gestrandet. Wie stellt denn der Herr Presidente sich das vor? Also gut, auf zur nächsten Tanke, doch siehe da, auch dort wir uns der Diesel-Verkauf verweigert, dieselbe Argumentation steht ins Haus. Etwas unruhig werden wir nun doch, sehen nur noch drei weitere Möglichkeiten vor unserem geistigen Auge:
Nummero uno: vorne an der Ecke gibt’s einen Nummernschildladen. Kaufen wir eben ein bolivianisches Kennzeichen. Kostenpunkt: 70 Bolivianos. Eine Überlegung wert. Nummeo dos: Kanister kaufen, einem Einheimischen in die Hand drücken. Leider muss der da um die 30 Mal laufen, damit es auch was bringt. Plus Schmiergeldfaktor. Eher schlecht. Nummeo tres: die verbleibende Tanke verkauft uns was, wenn nicht, Tankwart bestechen. Vielversprechend.

Erfolgreich mit der letzten Nummer! So tanken wir einmal voll, denn wenn schon, denn schon, können 270 Liter Diesel für knappe 100 Euro einfüllen, der Wart ist mit 20 Bolivianos extra zufrieden. Auf dem Weg kaufen wir bei „Servitec“ noch neue Reifen á 1360 Bolivianos (136 €, in D ca. 180 €), die alten haben ihre Schuldigkeit nach 48.000 Kilometern getan, keine zwei Stunden danach verkaufen wir die Alten für 500 Bolivianos.

Später kommen wir dem Diesel-Rätsel auf die Spur: tatsächlich wurde vor vier Monaten ein Gesetz erlassen, dass Ausländern das „Schnäppchen“-Tanken erschweren soll. Da Bolivien ein Drittel günstigere Preise für Lebensmittel und Sprit (ist vom Staat subventioniert) offeriert, entstand in den letzten Jahren ein regelrechter Benzin-Tourismus von Seiten Perus. Dies soll nun unterbunden werden. Es gäbe aber Vertragstankstellen, die bestimmte Mengen mit Aufpreis an Ausländer verkaufen dürfen. Aber die erstmal finden!

Nun haben wir also auf der Minus-Seite Boliviens schon mal die Korruption gleich beim Grenzübergang, die wahnwitzige Fahrweise des Trucks plus diverser Chicken-Bus-Fahrer. Addiert mit dem Diesel-Fiasko, dem Hupwahnsinn, der Touristenabzocke und den mürrischen stimmungstöter-Menschen steht es gerade auf meiner imaginären Strichliste deftige 6:0 gegen das neue Land.

PS: Nachtrag, Sonntag, 24.7., Korrektur auf 8:0!
Ich habe mir durch das saftige Forellenmenü sagenhaft schmerzvollen Brech-Durchfall zugezogen, der erste meines Lebens, der zählt ja wohl mindestens zwei Minuspunkte.
PPS: Leide nun seit vier Tagen im teuren „Oberland-Hotel“-ummauerten häßlichen Parkplatz für unverschämte 10 EUR die Nacht! Pah, da waren´s schon knackige 9:0.

Wenn jetzt nicht bald was Tolles, nein SENSATIONELLES kommt - bei 10:0 verlasse ich das Land! 90-Tages-Stempel hin oder her.

Moment, ich bin dann mal kurz weg...

LA PAZ II

Samstag, 30.07.2011

Wunderpalme, hexenmarkt
und fiesta

Eine leidvolle Woche ist vergangen und endlich fühle ich mich fit genug, die Innenstadt La Paz´ zu erkunden. Für günstige 30 Bolivianos fahren wir per Taxi durch den wirren, lauten, intimabstandslos-grenzwertigen Verkehr zur Plaza San Francisco und starten von hier aus unseren Stadtrundgang. Im Hintergrund erhebt sich der schneebedeckte Illimani, etwas weiter vorne lehnen sich die rotbraunen kleinen Wohnhäuser an den Hang vor der City.

Es gibt alte, heruntergekommene Bauwerke, genauso wie schicke Vororte, in denen Glasfassaden und bunte Farben dominieren. Die Stadt zeigt uns ihre vielen Gesichter: hier traditionell gekleidete Frauen mit bunten, flirrenden Röcken und schmalen Rundhüten, auf dem Rücken tragen sie Babies, Lebensmittel oder Kochtöpfe in leuchtende Webtücher gewickelt. Dort etliche kleine, vollgestopfte Touristenshops mit billigem Krimskrams-Schnickschnack, aber auch schönem Silberschmuck, gestrickten Wollesachen oder bedruckten T-Shirts. Zwischendrin hektisch eilende Geschäftsleute im teuren Anzug oder kleinen Schwarzen und Christian Louboutin-High Heels, auffälligem Goldschmuck und Iphone am Ohr.

Gerade heute ist „Fiesta de las Universidades“ und die Stadt brodelt. Eine einzige dichte Masse schiebt sich an uns vorbei, wir halten alles fest, was wir in den Hosentaschen stecken haben, Feuerwerkskörper knallen, Paare tänzeln, Fanfarenzüge tönen an uns vorbei. Jede Uni des Landes steuert eine Musik- oder Tanzgruppe bei, um den Beginn des neuen Studienjahres zu feiern. An den Ständen brutzeln Fleisch und Gemüse, Alkohol fliesst in rauen Mengen, die Röcke der Mädels sind kurz, die Pomade der Jungs ist reichlich von einem Ohr zum anderen verteilt, die Polizei zeigt grüne Mütze an allen Ecken. Vor uns wird ein Taschendieb erwischt, gestellt und zur Seite gezogen. Uns wird das Gemenge ein wenig zu viel und wir zweigen ein in die Parallelstraße, nach einer kleinen Stärkung und Bewunderung diverser Antiquitäten, Webereiartikeln, Musikinstrumenten und „originalem“ Kunsthandwerk geht’s weiter zum Mercado de los Brujos.

Schon von Weitem dringt ein beißend scharfer, verwesender Gestank herüber. Es wuselt auf dem Hexenmarkt, dichter Dampf steigt auf, es gibt alles zu kaufen, was man sich vorstellen kann. Oberhalb der knallvollen Stände hängen merkwürdig verrunzelte Gestalten, zu Hunderten baumeln sie im Wind über den Marktfrauen. Ich schaue genauer hin, entdecke kleine schwarze, mit Lederhaut überzogene Tierbabys, manche haben schon das charakteristische Fell, den Flaum über dem Körper: ich reisse die Augen auf - da hängen Lama-Embryos!

Ungeborene Alpacas, von zwanzig Zentimeter-Größe bis zu einem halben Meter, aber eben auch frisch entbundene Minikleine, das weiße Haar wächst gerade so auf dem Leib. Unterhalb der getrockneten, streng riechenden Föten sehe ich Tupperware, viele transparente Plastikschüsseln übereinander gestapelt mit gemischtem Inhalt: Knochen, Blut, Kräuter, Silber- und Goldpapier.
Links von mir geschieht Interessantes, eine indigene Familie erscheint am Verkaufsstand, forsch voran schreitet eine knapp 40-Jährige Frau in gewebtem blauen Faltenrock, typischem braunen Filzhut auf dem dunklen Scheitel, die geflochtenen Zöpfe mit gelben Puscheln auf Hüfthöhe zusammengebunden. Ihr Mann stiefelt knapp hinter ihr her, robuste blau-weisse Feldarbeits-Kleidung, Fischerhut tief ins gegerbte Gesicht gezogen, die wunderhübsche, schüchterne Tochter geht als letzte und bleibt in zweiter Reihe vor dem Stand stehen. Die etwa 16-jährige hat bereits ein einjähriges Kind auf dem Rücken, geschickt in das traditionelle farbenprächtige Webtuch gewickelt. Sie ist es auch, die nun beginnt auf Anweisung der alten Marktfrau diverse Dinge aus ihrem kunterbunten Stand auszusuchen.

Die etwa 60-jährige „Hexe“ mit eigenwilliger abgenutzter Klamotte, dreckigen überlangen Spitzfingernägeln, runzeliger Haut und durchdringender Stimme bedeutet der Jungen unwirsch und barsch, aber mit langsamen, bedachten Bewegungen sich einen kleinen Lama-Embryo aus ihrer Sammlung auszusuchen. Die junge Frau lässt sich Zeit, dreht den Rücken mit dem Baby zu den Föten, der Kleine streckt die Hand aus, da greift die Oma ein und krallt sich das kleinste ungeborene Lama.

Sofort gibt’s Schelte von der Magierin, die Tochter muss das Tierbaby aussuchen. Sie tut, wie ihr geheissen, nimmt sachte ein ekelhaft verrunzeltes, unbehaartes schwarzes Lama aus der Reihe über dem Kopf aller, reicht es der alten Frau, die sofort geräuschvoll darauf spuckt. Sie gibt es wieder zurück, zusammen mit einem Bündel weißer Alpacawolle. Die 16-jährige hält den Embryo hoch, sucht sich aus der vordersten Reihe des Standes noch einen quadratischen Lappen Aluminium- oder Silberfolie aus, wickelt diese um den Fötus, aussen herum wird nun die helle Wolle gebunden.

Die alte Zauberin scheint zufrieden, nimmt das Ganze zurück, spuckt noch einmal darauf und beginnt nun, vor sich auf ihrem Schoß ein Päckchen zu arrangieren: sie breitet eine Lage Recycling-Papier aus, schmeisst rosafarbene Bonbons und bunt-schillernde Papierfetzen darauf, legt den umwickelten Embryo hinein, taucht einen Esslöffel in orangefarbene Flüssigkeit und träufelt diese darüber. Anschließend gibt’s einen Teelöffel voll grünen Kräutern darauf, einen anderen voll gelber getrockneter Blumen und zum Schluss noch blaue Plastikmarken, die sie einem Tupperbecher entnimmt. Dramatischerweise schüttet sie zum Schluss noch dreierlei Inhalte verschiedener Behälter auf den Tisch, die Tochter muss sich jeweils vier Dinge aussuchen. Soweit ich über die Schultern erkennen kann, nimmt sie nach langer Überlegung endlich zwei rote, karierte Plastikchips aus der Menge plus zwei beige kurze Knochen.

Die Hexe nickt kurz der Großmutter zu, die drückt nun auch durch Mimik ihre Zustimmung und ihr Wohlgefallen aus, die Tochter scheint zeitgleich nervös und zufrieden zu sein, das Baby auf dem Rücken schreit aus allen Leibeskräften. Nur Großvater ist seltsam ruhig, naja, er wird ja sowieso nicht gefragt. Die Magierin murmelt irgendeinen durchdringlichen Singsang, kreist mit ihrer Hand dreimal über dem Paket, verschliesst es anschließend sorgfältig an allen Enden und übergibt es mit verschwörerischen, gedämpften Worten, ich verstehe davon leider nur „azucar“ und „incinerar“, sie soll wohl „Zucker zufügen und das Ganze verbrennen, als Opfergabe“. Nun strahlen alle über das ganze Gesicht, Oma packt das Papierbündel in die Tasche, Tochter herzt ihren Kleinen über die Schulter, der freut sich auch, zumindest hat er jetzt zum Brüllen aufgehört, nur Opa ist nicht so erfreut, als er heftige 60 Bolivianos über den Tisch schiebt.

Ich bin so abgelenkt durch die Beobachtung dieser Szene, dass ich für fünfzehn Minuten den penetranten Geruch beinahe verdrängt hatte, doch nun kommt er mit doppelter Heftigkeit wieder an meine Nase und mir wird schlecht. Ich schiebe Georg weiter, wir irren durch die Menschenmengen, alte Frauen mit langen schwarzen Zöpfen und Rundhüten werfen trockene Knochen auf den Boden, diskutieren leidenschaftlich ohrenbetäubend über das Gesehene, gegenüber werden seltsame Dinge aus den Regalen zusammengesucht, die Magierinnen scheinen genau zu wissen, was sie tun. Wie in einer antiken Apotheke sind die Behälter aufgereiht, zwar keine Reagenzgläser oder Pipetten sondern schnöde Plastiktupperware, aber der Inhalt hat´s in sich!

Doch Gestank, Hexengemurmel, brodelnde Kochtöpfe, runzelige Gesichter und abgewetzte Kleider, fliegende Knochen und baumelnde Föten werden mir jetzt irgendwie zuviel und ich kämpfe mich raus aus dem bunten Gewirr. Zwei Parallelstraßen weiter steht normales Businesslife auf dem Programm, doppeltgereihte Anzugmänner hetzen mit ihren Computern unterm Arm an uns vorbei, auf zur nächsten Pizzeria. Crazy world!

Nach kurzem Lunch setzen wir unseren Rundgang fort, was aufgrund des rauschenden Universidad-Festes gar nicht so leicht ist, die Stadt ist ein einziges Gewusel, viele Straßenzüge sind hermetisch abgeriegelt, wir laufen an Kolonialgebäuden vorbei, quer über den Plaza 14 de Septiembre ab in die Calle Max Peredes, wo wie immer der Mercado Negro stattfindet. Auf dem Schwarzmarkt trödeln wir noch ein wenig herum, es gibt alles mögliche zu kaufen, von gefälschten Jeans und Schuhen, über Videos und CDs bis hin zu Radios, Fernsehern und Beautyartikeln. In den verstopften Gassen wird gefeilscht, geschrieen und gehupt, was Stimmen, Zungen und Tröten hergeben, mir schwirrt der Kopf und nach einem kurzen Abstecher zur Plaza Alonso de Medoza nehmen wir uns ein dudelndes Taxi zurück zum Campground.

An beiden Seiten, sowie an allen Fensterscheiben leuchten kreischend bunte, überdimensionale „Dios me guarda“-Aufkleber und die scheinen unseren Fahrer unfallfrei zu sprechen. Jedenfalls brettert der dank Schriftzug ohne Sicht, aber mit binärem Gasfuss drauf los, er kennt nur Vollgas oder Totalbremse, ach, und natürlich Hupe - zwischendrin, so ungefähr im Takt der Musik. Wir krallen uns im Sitz fest und - nach einer Ewigkeit überraschenderweise heil am Ziel angekommen - bin ich nicht nur taub, sondern habe auch einen Krampf in den Fingern. Wenigstens hat die duftende Wunderpalme am Rückspiegel den beissenden Geruch der Föten in meiner Nase verdrängt und der Sticker hat uns tatsächlich vor dem unvermeidlichen Unfall bewahrt. Blöd nur, dass jedes zweite Auto den "Gott schützt mich"-Slogan aufgepappt hat. Doch wahrscheinlich hat´s mit der Größe zu tun und da waren wir klar im Vorteil!

RURRENABAQUE + SELVA + PAMPA

Montag, 08.08.2011

jungle-fever im Amazonasbecken

Dicht wuchernde Dschungel-Masse umgibt mich, die Affen brüllen, die Vögel kreischen, die Frösche quaken. Jemand hat „play“ auf dem Soundtrack unseres 4-Tagestrips gedrückt. Stereo total. Ein Kolibri mit metallisch grünem Gefieder direkt über meinem Kopf wummert den Bass dazu. Wie ein hochfrequenter Spielzeughelikopter fliegt er auf der Stelle, seitlich, rückwärts, wieder nach vorne, von einem Fruchtshake zum nächsten.

Ich sehe opulente grün-gelbe Blätter vor meinen Augen tanzen, die glänzenden Konturen flirren unscharf wie durch Weichzeichner verzerrt, helle Sonnenpunkte vibrieren auf den Strukturen. Die Luft ist heiß, stickig und schwül. Intakte Fauna, floristisches Märchenland! Knack, da krachen die Äste, unser kräftiger indigener Guide Herlan schlägt mit scharfer Machete den Weg durch die Wildnis frei.

„Mira! El arbol aqui es tòxico! Esta hoja es narcòtica, eso extracto es por el stomago y hay mas medicamentos naturales! Vamos, vamos...“. (Schau! Der Baum hier ist giftig! Dieses Blatt anästhesierend, dieser Extrakt ist für den Magen und es gibt noch viel mehr natürliche Medikamente! Weiter, weiter...). Bald können wir uns waschechte Medizinmänner, äh -frauen nennen, wir lernen die umfangreiche Dschungel-Apotheke aus erster Hand kennen!

Im obersten Urwaldregal steht der Betaisodona-Baum, hier die Viagra-Rinde, neben uns die natürliche Immodium Akut-Wurzel, dort das grüne Aspirin plus C im praktischen Handtaschen-Blattformat. Sollte einer der Anwesenden etwaige Bauchprobleme haben, gibt’s sogleich den mundfertigen Flüssig-Extrakt aus der fetten Liane hinten links. Herlan schlägt die Machete erneut mit Schmackes in den Wald, eine ölig-gelbe Paste quillt aus dem dicken Stamm, die grobe Rinde ist aufgeplatzt, „quien quiere probarlo?“ (Wer will´s probieren?) - Och, Amigo, lass mal!
Doch so schnell gibt sich unser engagierter Super-Guide im Muscle-Shirt nicht geschlagen und hält mir bald darauf ein dürres braunes Ästchen vor die Nase. „Para ti, sorpresa!“, grinst er mich an „pero solo un centimetro!“, mahnt er da, „aber nur einen Zentimeter davon kauen“. Was soll´s, denke ich und schiebe die „Überraschung“ in den Mund. Keine drei Sekunden später werden meine Lippen taub, das Zahnfleisch kribbelt, die Zunge fühlt sich geschwollen an, Feeling wie kurz vor der Weisheitszahn-OP. - „Es narcotico!“, grinst Herlan.

Wir befinden uns auf einem Abenteuer-Dschungel-Trip der Extraklasse im wilden Amazonas-Becken. Von La Paz aus rüttelten wir in 18 unsäglich steinigen, nervenaufreibenden Stunden und plötzlichem Linksverkehr nach Rurrenabaque, kurz Rurre. Auf dem Weg kaufe ich die günstigsten und süßesten Bananen meines Lebens, zehn Stück für zehn Bolivianos (1€) von der netten Indigena-Dame mit dunklem Filzhut und rosa Flitterrock mit Schichten wie ein Baumkuchen. Im Hostel „El Mirador“, malerisch am Hang kurz vor Rurre gelegen (5 €), sind wir die einzigen Gäste, fühlen uns sofort wohl und genießen den nierenförmigen kühlen Pool mit seiner fantastischen Aussicht bis weit über die Grenzen der Stadt hinaus auf den sich schlängelnden Rio Beni. Der lebhaft-dynamische Eigentümer Jürg erinnert mich in seinem kreativen Einfallsreichtum an Mac Gyver. Als schweizer Projektleiter für Bauunternehmen war er schon in der ganzen Welt zu Hause, Abende lang hängen wir an seinen Lippen, als er beeindruckende Afrika-, Asien- und Südamerikageschichten zum Besten gibt. Die netten Schweizer Laura und Heiri komplettieren am nächsten Tag unsere Runde, die Beiden haben gerade zwei Jahre Afrika im Mercedes-Sprinter hinter sich, bevor sie nach Buenos Aires verschifften. In den wilden 70er Jahren tuckerten sie langhaarig, tollkühn und mit kleinem Budget im VW-Bus auf dem Hippie-Highway nach Indien, wir können uns nicht satthören an all den aufregenden Geschichten der Althippies.

Wir verlieben uns sofort in das tropisch-heiße Klima Rurrenabaques, die üppig-begrünten Berge, die süße pittoreske Stadt, den hinreissenden African-Lodge-Style der Anlage und die einladenden Garn-Hängematten. So relaxen wir bei 33 Grad im Schatten und 85% Luftfeuchtigkeit eine ganze chillige Woche in Teakholzliegen - abwechselnd am Pool und der zweistöckigen Holzlodge - bevor wir uns dazu aufraffen können in der idyllischen Kleinstadt eine „Wildlife“-Tour zu buchen.

Unter einer Vielzahl von Anbietern entscheiden wir uns für „Incaland-Tours“, 1200 Bolivianos, also 120 Euro soll der Trip kosten, direkt am nächsten Tag geht’s an Board. Wir nehmen die „Combinado-Tour“ - eine Nacht im Dschungel, zwei Nächte in der Pampa. Eine Statistik von „Turismo&Negocio“ besagt, dass dort mehr als 1000 verschiedene Vögel, 300 Säugetierarten und 200 Reptilienspezies heimisch sind – überdies gibt’s um die 6000 Hauptpflanzenarten zu bewundern. Viele davon sind hier einzigartig und nirgendwo anders auf der Welt zu sehen! Unser Lonely-Planet-Reiseführer besagt sogar: „Die bemerkenswerte Wasserscheide des Rio Madidi (wird flussabwärts zum Rio Beni) kann stolz auf die größte Artenvielfalt aller Schutzgebiete der Erde sein!“.

Vom kultigen Mini-Büro mit handbemalten Anzeigen an den Innenwänden laufen wir am nächsten Tag kurze fünf Minuten zum Ufer, springen auf das grün-weiß-rote „Bote“ und cruisen zwei abkühlend-windige Stunden den ockerbraunen breiten Amazonasfluß Beni entlang - filmreif eingerahmt von dunklem, dichtem Vorbilds-Dschungel. Mein Blick fällt auf die quietschgelben Sitzgelegenheiten, die als Dreierpaare im Boot montiert sind – diese typischen 70er-Jahre-Wäscheleine-über-Alurahmen-Stühle unserer Eltern...hier sind sie also abgeblieben!

Nach kurzem Abstecher in eine indigene „Communidad“, einem urigen Pueblo mit halboffenen windschiefen Hütten und Strohbetten plus kleinem Exkurs in die hiesige Dorfschule, wo gerade eine Hunde-Gang unter großem Protest der Kleinen die Pausenbrote stehlen, geht’s weiter Richtung Madidi-Nationalpark. Plötzlich hält das Boot irgendwo zwischen Rurre und Madidi und wir sollen aussteigen. „Como?“ (Wie bitte?). Kein Weg, kein Pfad, kein Camp, kein Nichts. Ja, doch, Dschungel halt. Und der ganz üppig und überall! Doch Protestieren ist nicht, wir wackeln unserem gestählten kupferhäutigen Herlan hinterher – mittenrein in die grüne Herrlichkeit! Der packt auch sogleich die Machete aus und zack, wumm, batsch schlägt er uns den Weg frei.
Die Piepmatze flöten, die Monkeys krawallen, wir schwitzen.

Stück für Stück bahnen wir, genauer gesagt, Guide Herlan, uns eine Schneise durch das Grün, hin und wieder macht er uns auf die spezielle Nahumgebung aufmerksam: im Netz vor uns eine sitzt eine unscheinbar kleine schwarze Gift-Spinne, hinten ein pochender Specht im Wipfel, rechts die züngelnde Python auf der Palme. Der Schweiß strömt aus allen Poren, unsere Vierer-Reisegruppe bestehend aus Sophie, Fabian, Georg und mir hecheln dem taufrischen, scheinbar frisch gepuderten Herlan hinterher, der legt ein unermüdliches, zackiges Indiana-Jones-Tempo vor.

Husch, da war er auch schon weg. Vom Dickicht verschlungen – wir gucken uns ratlos an. Warten fünf Minuten an Ort und Stelle, ratschen erst mal ein bisschen, tauschen Kennenlern-Infos aus. Wir verstehen uns auf Anhieb blendend mit den schlagfertig-witzigen 21-Jährigen aus Konstanz, sie verbrachten gerade ihr Auslandssemester in Cordoba, Argentinien, und schwärmen in höchsten Tönen von der Stadt, nun hängen sie noch zwei Backpacker-Monate in Südamerika hinten dran. Wir lauschen, ob unser Guide vielleicht den Verlust der Reisegruppe bemerkt und umdreht – wo auch immer er gerade sein mag. Doch - nichts passiert. Wir sind Führer-los.

Allein im Dschungel. Weitere fünf Minuten vergehen. Wir harren aus. Regenwald überall, rechts und links und oben und unten, wie eine dicke smaragdfarbene Decke mit bunten Illustrationen, die gerade über uns zusammenklappt. Blätter, Äste, Bäume, Tiere – alles da, nur kein Guide und kein Pfad. Mh. Da schreit Fabian plötzlich aus Leibeskräften: „Ich bin ein Star – holt mich hier raus!“. Es funktioniert nicht ganz, aber halb, unter unserem lauten Lachen kommt Herlan zum Vorschein. Der Dschungel hat ihn wieder ausgespuckt, er tritt aus der tiefgrünen Mauer hervor, erst sehen wir nur das Gesicht, er sieht uns fragend an, legt den Kopf schief und frägt leise: „Que?“ (Was?).

Wir grinsen, als Herlan wieder komplett vor uns steht, erst der Fuß, dann die Hand, zum Schluss der ganze Guide. Nun kann uns nichts mehr passieren, er hat Machete, Kraft und Dschungel-Plan! Gemeinsam hüpfen wir über moorige Tümpel, waten durch schimmernde Flüsse, balancieren über umgefallene Baumstämme und springen über glitschige Riesenwurzeln - er selbst strahlt dabei wie der Honigkuchenmann.

Als semi-professionelle Cross-Country-Athleten und halbfertige Dschungel-Pharmazeuten mit Naturales-Vordiplom kommen wir mit kribbelnden Lippen und verschwitzten Gesichtern ziemlich erschöpft am Dschungelcamp an. „Pueden decansarse por 15 minutos, entonces vamos otra vez“ (Ihr könnt euch 15 Minuten ausruhen, dann gehen wir nochmal los), tönt Herlan. Freuen können wir uns gerade nicht so darüber, der Fun-Peak ist irgendwie schon überschritten.

Fix und fertig lassen wir uns auf den Holzstuhl vor der Hütte fallen und atmen durch. Die rustikale Campanlage auf einer freigeschlagenen Lichtung im Nationalpark besteht aus einem länglichen Ess- und Küchenblock aus Tropenholz, davor schürt die Köchin schon das Lagerfeuer an. Über dem Bonfire hängt ein großer schmiedeeisener Bottich an einem Stahlgestell, rechts davon befinden sich unsere Bambus-Schlafhütten mit dekorativem Palmwedeldach. Ganz nach hinten führt der Weg über halbmeterhohe abgesägte Baumscheiben (nützlich bei Regenzeit) zu den einfachen Toiletten. Am Ende der Freifläche gibt’s die Sammelhütte für Guide, Bote-Chauffeur und Köchin. „No electricidad, no agua, pero mucha natura y aventura“ (Keine Elektrizität, kein Wasser, aber viel Natur und Abenteuer)...

Kurz den prallen Rucksack auf die weichen Betten geschmissen - zum Glück gibt’s intakte Moskitonetze und ein eigenes Doppelzimmer für jedes Paar – schon gehen wir wieder an Board. Natürlich nicht ohne prophylaktische DEED-all-over-Insekten-Abwehr-Dusche, die fiesen Viecher gehen auf Kuschelkurs, sie summen und surren wie bescheuert um uns herum. Als wir erneut aussteigen, schnuppern wir erst modrig-pilzigen Waldbodengeschmack, ein bisschen wie Dr. Oetker´s „Champignon-Cremesuppe“, bevor wir dumpfes Grunzen tief aus dem Wald dröhnen hören. Wir schleichen uns an und sehen in der Ferne eine ganze Gruppe wilder schwarzer Dschungelschweine, mit der langen haarigen Nase stöbern sie eifrig im feuchten Grund. „Suerte!“ (Glück), lacht der Guide, normalerweise sind sie auf der anderen Seite des Flusses.

Wir röcheln in schwersten Asthmatiker-Tönen durch das wuchernde Grün, klettern über querliegende Stämme, kriechen, robben, schlappen und watscheln - Rüdiger Neberg wäre stolz auf uns - bevor wir nach einer Ewigkeit des Transpirierens dunkle krächzende Töne vor uns vernehmen. Der Wald öffnet sich und wir erreichen eine helle Lichtung – vor unseren Augen baut sich eine fünf-Stockwerk-hohe gelbe Lehmmauer auf. Der Lärm ist ohrenbetäubend, meine Augen tasten die Wand ab und ich erspähe große Löcher darin...Nester? Ja, große Höhlen für große Vögel...und dann, dann schweben sie über uns: zwei prächtige himbeerrote Papageien verlassen pompös ihr Appartement! Die leuchtenden Aras fliegen königlich über unsere Köpfe hinweg, immer dicht nebeneinander, ein Pärchen für´s Leben. Wenn einer der beiden stirbt, bleibt der andere für den Rest seines Daseins allein - und das können schon mal langatmige 80 bis 100 Jahre sein! Die schwebenden Vögel sind ein hinreissender Augenblick! Als ich genauer hinsehe, entdecke ich noch einen Schwarm grüner, kleiner Papageien, die sich heftig zwitschernd dazwischenschieben.

„Vamos!“, wir werden barsch aus der Beglückung gerissen, wieder ab in den Dschungel, nix „à la playa“! Diesmal in fortgeschrittenem Level, nämlich bergauf und unter Zeitdruck. Herlan macht Tempo. Kniehohe Stufen erheben sich vor uns, meine Klamotten kleben mittlerweile am Körper, alle paar Minuten wische ich mir die Tropfen aus dem Gesicht, wir alle sind ganz weiß-rot um die Nase. Doch Herlan kennt kein Pardon „La salida del sol! Vamos! Rapido!“ (Der Sonnenuntergang! Geh´ ma! Schnell!).

Oben angekommen hole ich tief Luft, als mir unwillkürlich der Atem stockt: vor uns liegt die unendliche Weite des Primärregenwalds ausgebreitet. Fantastisch, berauschend, bestürzend schön! Im orangen Abendrot blitzen einzelne Wipfel golden auf, filigrane Baumumrisse zieren als zarter Scherenschnitt den Vordergrund, gigantischer grüngelber Urwald-Teppich rollt sich bis zum Horizont, inmitten der dichten Masse funkelt ein schimmerndes Flussbett saphirblau auf, über die Baumspitzen ergießt sich ein majestätischer Regenbogen – eine einzige Farborgie! Gott, wie schön ist die Welt!

Als wäre das Kunstwerk noch nicht perfekt, segeln jetzt die Aras über das Bühnenbild. Ein märchenhafter Augenblick, ich habe Gänsehaut! Der Hechel-Lauf war´s also wert, wir setzen uns an die Kante der Lehmmauer, blicken über das neu kolorierte Paradies, hören die Papageien singen und sind ganz glückselig-duselig! Jeder in Gedanken versunken schleichen wir zurück zur Lodge, wo Louisa, die Köchin schon unser Abendessen zubereitet hat: frischer Riesen-Fisch, soeben gefangen, nur für uns vier. Nach dem Abendmahl neues Programm: Night-Walk durch den Urwald. Im Schein der Taschenlampe leuchten diverse Augenpaare grellgelb im Schwarz der Nacht auf, die Geräuschkulisse ist beeindruckend. Herlan löscht das Licht. Ich sehe Nichts und höre Alles, ein nachhaltiges Erlebnis, mein Puls schnellt hoch, da ist ein tiefes Knurren, ich lausche angespannt, fühle mich absolut lebendig, im Hier und Jetzt, völlig wach und absolut da. Bereit mit dem Säbelzahntiger, äh, Puma zu kämpfen, den Jaguar zu überwältigen, der Schlange ins züngelnde Gesicht zu blicken. Zack, zack, zack, gleich folgt mein Xena-Schrei. Geniales Erbe unserer Vorfahren, ein archaisches Gefühl durchströmt mich. Wo ist mein Messer, äh, die Machete? Ach so...äh...„Herlaaaaan!“- Da knipst er wieder die Lampe an, leuchtet auf sich, nimmt den Zeigefinger vor den Mund und haucht ein sanftes „Shhhht!“- „Jaguar! Delante!“, - ohne Scheiß jetzt? Ich kann es nicht fassen, doch ein enthusiastisch überdrehter Herlan meint tatsächlich die „ojos del jaguar!“ (Jaguaraugen) vor uns gesehen zu haben. Ich schaue genau, der Lampe hinterher, mh, naja, könnte jetzt schon sein, aber, ich mein´, wer weiß das jetzt schon bei der Dunkelheit. Egal, der aufregende Gedanke zählt.

Bereichert von den vielen Eindrücken des Tages entschlummern wir unter dem Moskitonetz ins Reich der Träume. Überraschenderweise ist die Nacht ziemlich kalt, als ich aufwache bin ich gehörig verschnupft. Nach kurzem stillem Frühstück, da erst 6.00 Uhr, besteigen wir noch schlaftrunken wieder das Boot, das uns zurück nach Rurre bringt.

Zwei Stunden und einen sagenhaften Sonnenaufgang mit dicken Nebelschwaden über dem Urwald später erreichen wir die Stadt, bringen Sack und Pack hinauf zur Agentur und springen in den bereits wartenden, hustenden Jeep. Mit dem knattern wir nun drei laute muss-das-wirklich-sein-und-wieso-tue-ich-mir-das-nur-an-Stunden über holprige Mageninhalt-aufstoßende Wege Richtung Pampa. Die Sonne brennt, Klimaanlage is´ nicht, alle Fenster sind offen, braune Staubschichten legen sich über unseren Schweiß vom Vortag, ach, ich vergaß zu sagen, es gab kein Wasser für uns im Dschungelcamp, drum sind wir nicht wirklich salonfähig - doch wen kümmert´s? Die Toyota-Federung ist im Arsch, der Fahrer auch ein Solcher, jedes Loch haut direkt durch, ich spüre die Erschütterung in allen Knochen...

Irgendwann erreichen wir halb komatös unser Ziel. Mit hochroten hängenden Köpfen und gelbbraunen Gesichtern sehen wir erbarmungswürdig aus, doch nur die Harten kommen in den Pampas-Garten, so schnappen wir uns die Rucksäcke und warten am Ufer auf das nächste schnukelige Longtailboot.

Unsere bis dato so harmonische Reisegruppe wird hier um drei Leute erweitert. Die französische Camargue-Truppe stellt sich erstmal vor. Allen voran eilt Lülü, mit beigem Spitzen-BH auf großem Dekolletee und geschürzten Silikon-Lippen spricht sie ab sofort für alle: „Je suis Lúlú, ma cherie Jules, ma papa Jean-Pierre“. Jules, im Folgenden nur noch Jújú-Cherie (sprich Schüüh-Schüüh-Sherriie) genannt, ist ungefähr doppelt so groß wie seine forsche Frau, ein Drittel so umfangreich aber viermal so sympathisch. Sein dunkler Vier-Jahres-Vollbart reicht bis zur Brust, die lockigen Haare sind unter dem Fischerhut versteckt, warme Kulleraugen linsen staunend darunter hervor. Papa Jean-Pierre, etwa 60-jährig, ziemlich schmal und grau auf dem Haupt und um die Nase, hält sich im Hintergrund. Lülü muss noch schnell auf die „Toilett“, beide Männer begleiten sie und warten mit dem Gepäck davor, als wir im „Bote“ Platz nehmen. Eine Komödie beginnt! Erster Akt: Lülü besteigt das Boot, sichtlich genervt und tief schnaufend nimmt sie hinten Platz. Sophie zieht ihr Longsleeve aus, da kreischt es in unser aller Rücken „ÜH! IIE! NON!“, es folgt ein gellendes, nachhaltiges „JÙJÙ-CHERIEE!“, das durch Mark und Bein geht. Wir vier gucken ratlos, Sophie dreht sich um, da entkommt Madame ein spitzes lautes „Moi, je ne...ööh...Ai cannot see ÄÄNYSIIING!“. Jules nimmt seine Frau in den Arm, die bebt theatralisch, hektisch streichelt er den Kopf seiner Liebsten. Hatte wohl irgendwas mit den bereits besetzten Plätzen in der ersten Reihe plus der Unverschämtheit von Sophie´s Ausziehorgie zu tun, erklärt uns später ein mitgenommener Jules beim Abendbrot. Na, das kann ja heiter werden! Jean-Pierre schleppt derweil alle drei Rucksäcke an Board. Nun mischt sich leichtes Magenta in sein sonst so graues Gesicht. Sichtlich erschöpft lässt er sich auf den letzten freien Stuhl fallen und wir legen ab.

Die Landschaft hier sieht noch ein bisschen mehr nach „richtigem“ Amazonas-Becken á la Hollywood-Streifen aus, der Fluss ist einen Tick schlammiger, die braune Oberfläche wabert gefährlich aktiv. Ein hechelndes Geräusch lässt uns aufschauen, dort aus dem hohen Busch tönt der eigenartige Sound. Wir kommen näher und sehen wahrlich komische Vögel! Wie aus der Steinzeit wirken die Sereres, Jurassic Park lässt grüßen! Mit hühnerartiger Statur bevölkern sie den Baum und gucken mit blauem Gesicht, spitzem orangen Raubtier-Schnabel, großen blutroten Augen und neckisch aufstehenden Pumuckl-Haarspitzen auf uns herab - und geben dabei Töne ab, als würden sie gleich kollektiv abkratzen.

Dann geht das Tirriliii los. Nein, keine tierischen Laute, eher ohrenbetäubende Lúlú-Arien durchsetzt mit „Schüh-Schüh, mon-cherie, je t´aime“- Liebesgeflüster“. Jane Birkin und Serge Gainsbourg verblassen dagegen! - Warum weiß kein Mensch - schätze, jetzt ist sie wieder gut drauf. Derweil übergibt Jean-Pierre das Mittagessen den Fischen.

Dann geht es Schlag auf Schlag! Wir dümpeln den Rio Yacuma entlang, neben mir spritzt Wasser auf, ich erschrecke, blinzle nach links: ein Krokodi schießt heraus! Knappe 30 Zentimeter neben meiner Hand, die lässig im kühlen Wasser baumelt, schnappt die Fresse zu! „Es un aligator“, erklärt uns Herlan. Meine interne Sirene geht ab, Aligator am Finger! Ich bin kurz vorm Herzinfarkt, aus Versehen haben wir das Croc angefahren, wir sind beide ausser uns! Ich blicke in eine grausige Grimasse mit windschiefen, spitzen Zähne im aufgerissenen Riesenmaul. In der gelben Brühe wimmelt es von bedrohlichen Gestalten, allenthalben steigen Luftblasen auf, es blubbert und gluckst. Da erscheinen weitere glubschige, runde Augäpfel, geschlitzte grüne Reptilpupillen schieben sich zur Seite. Perfekt getarnt in der braunen Soße sind die Tiere ohne Bewegung unmöglich auszumachen, kaum zu unterscheiden von treibenden Baumstämmen! Kein Wunder, dass es die Echsen seit dem Dinosaurier-Zeitalter nahezu unverändert gibt. Hunderte, nein Tausende tümmeln sich im Wasser, manche laufen ins Nass, als wir antuckern, andere relaxen am Strand oder hecheln mit offenem Maul – ihre Art zu schwitzen. Lülü findet sie plötzlich entzückend-süß „N´est ce pas, Jújú-cherie?!“ (nicht wahr) und säuselt ein sopranes „Tirrilliliiii!“ während sie die Hand ausstreckt und eine großangelegte Streichel-Bewegung ausführt, wie Luftgitarre spielen, ohne Publikum und ohne Streicheltier. Danach wird laut geknutscht und gefummelt, die Sereres und Krokos können Lülü nicht das Wasser reichen, seitlich schwimmen erneute Kotzbrocken von Jean-Pierre den Fischen entgegen. Mir wird auch gleich schlecht.

Ich bin heilfroh, als wir endlich unser nächstes Camp erreichen. Bei stechender Sonne und 37 Grad schleppen wir uns in die Holzhütten und lassen uns erschöpft auf ´s Bett fallen. Fünfzehn Minuten Erholung, dann das Abendessen. Typisch bolivianisch serviert uns die Köchin unaufregende, aber sattmachende Rindfleischstreifen (Silpancho) in Senf-Paprika-Soße, Maniok-Wurzelgemüse und Salat aus Karotten- und Kohlschnitzeln – zusammen mit pappig süßer, neongelber, aber kühler Inka-Brause. Fix und alle fallen wir ins Coma, äh, Cama (Bett).

Das Madame-Spektakel des heutigen Tages ist noch lange nicht vorbei, ein fiependes Geräusch lässt mich aus dem Traum hochfahren, ein gellendes „ÜÜH!“, danach rhythmisches „Ah, ah, ah“. Lülü hat eine Spinne entdeckt und hechelt wie ein Serere. Sogleich läuft sie schreiend im rosa Barbie-Pyjama hinaus und holt den Guide. Mittlerweile hat sich die ganze Reisegruppe im Zimmer versammelt – ist nun aber etwas enttäuscht über die kleine 5-Zentimeter-Spinne. Jules tröstet Lúlú, Jean-Pierre steht grau im Eck, Herlan löst das Problem mit seinem Flip-Flop.

Der nächste Tag wird wieder spannend: nach dem ausgewogenen Desayuno mit Kaffeesirup und Inka-Kola, Spiegelei und viererlei Frittiertem (Empanada, Yuka-Wurzel, Teigbällchen und Kringel), besteigen wir wieder unser „Bote“ und düsen in die Pampa. Im Grunde eine unendlich weite Kuhweide, mit Dekolletee-hohem Schilfgras, handverlesenen Bäumen, etwas Moor und ganz viel Schlamm. Diva Lúlú bleibt im Zimmer, sie leidet unter Dschungel-Schock.

Wir machen uns auf die Socken und die Suche nach einer Anakonda, sie zählt zu den größten Boas der Welt. Die Sonne brennt, die Frisur sitzt schlecht, wir ziehen die Hüte tief in die Stirn und bahnen uns den Weg durch Moor und Gras. Gut ausgerüstet mit kniehohen Gummistiefeln waten wir durch tiefen Morast, beinahe bleibe ich stecken. Zehn Meter weiter vorne spritzt das Dreckwasser fontänengleich auf, schnelle Kroko-Körper schiessen in die Luft, ein blutiges Duell folgt. Die kämpfenden Alligatoren lenken uns ab, die Kameras gezückt sinken wir ins Moor. Kurz schießt mir der nun extrem positive Gedanke vom sterbenden Artrax durch den heißen Kopf. Wie förderlich! Mann, (Michael), Ende nun mit den (unendlichen) Geschichten! Ich bin kein Pferd und das Moor ist auch nicht so üppig. Aber Morlas gibt´s schon auch. Shit, ich stehe nun doch schon knietief drin und die dicke Soße rinnt in meine Stiefel, na grandios!

So, ich brauch jetzt eine Pause, es reicht, ich kann nicht mehr, ich setze mich auf einen umgefallenen Baumstamm und gieße meine Stiefel aus. Keinen Bock mehr auf Schlange oder Krokodil, Moor oder Schlamm. Es ist 12.00 Uhr mittags, mein Kopf pocht, die Stirn ist heiß, die Füße nass, die Augen stechen. Zum Glück stimmt Sophie ein und so dürfen die „Mujeres“ (Frauen) eine Pause machen, die Männer werden von Herlan weitergetrieben zur Anakonda-Jagd. Ich wünsche Georg, Jules, Jean-Pierre und Fabian viel Glück, uns viel Schatten.
Nach einer Ewigkeit kommen die stahlharten Rambo-„Hombres“ wieder zurück, hinten, ganz weit nach der Schlammgrube gibt’s tatsächlich eine Riesenanakonda zu sehen, wir müssen mit! Müdes Hurra! Und tatsächlich: camouflage-schlammfarben bedruckt mit eindrucksvoller schwarzer Zeichnung auf der glänzenden Schlangenhaut kringelt sie sich am Boden. Volles Programm hier auf der Wildlife-Safari! Auf dem Rückweg zum Fluss höre ich im Nacken bekanntes Krähen hoch über uns, diesmal sind es türkise Aras! Laut schnatternd flattern sie über unsere Köpfe hinweg, das schreiende Gelb ihrer Bäuche schillert, die kobalt-farbenen Flügel sind weit gespreizt. Ich fühle mich wie im Fünf-Sterne-Luxus-Zoo!

Wir schaukeln wieder im Boot den Fluss entlang und kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus, die ganze Dschungel-Armada tritt an: Alligatoren, Kaimane, Schildkröten – gut die kennen wir ja nun schon, doch da spazieren Tapire und Wasserschweine am Ufer, Brüllaffen und Spidermonkeys hangeln sich von Baum zu Baum, Adler, Reiher, Falken, Kolibris, überhaupt bunteste Vögel diverser Art schwirren fröhlich vor sich hin, ausserdem erspähen wir die lustigen Capybaras, ich würde sie als aufgebockte Riesenmeerschweinchen beschreiben. Bei ihrem haarigen Anblick komme ich mir vor, wie Alice im Wunderland – ich zu klein, sie zu groß! Gemütlich wälzen sie sich im kalten Schlamm und nehmen eine Nase Kühlschrank-Wasser zu sich.

Nachmittags steht Angeln auf dem Busch-Plan. Nicht etwa ordinäre Sardinen, die schmeissen wir generös wieder zurück, wir wollen Piranhas! Weiß ja jeder aus Amazonas-Streifen, die fiesen Biester tummeln sich hier, der Horror beim Baden schlechthin. Rohes Fleisch wird auf den Haken gespießt, ausgeworfen und...gewartet. Welch Ruhe ohne Madame! Ein sichtlich entspannter Jules angelt pfeifend, Jean-Pierre hat wieder etwas Farbe im Gesicht und wirft selig den Haken.

Hah! Da ist was bei mir! Ich reisse die Leine zurück...verdammt, leer! So schnell kann´s gehen! In Null-Komma-Nix ist das Fleisch abgenagt! Wer glaubt denn sowas, passiert mir dreimal am Stück! Zwanzig Minuten später gelingt mir dann doch der große Wurf: Riesen-Piranha am Haken! Weiß-rot-schuppige Fischhaut, handtellergroßer Körper, entsetzlicher Überbiss mit scharfen Spitz-Zähnen dran! Elf Stück angeln wir gemeinsam, die gibt’s tatsächlich zum Cena (Abendessen)!

Zurück in der Lodge haben wir unser Nachmittag-Schlummerchen redlich verdient. Doch bevor die Sonne effektvoll untergehen wird, springen wir noch mal an Board, diesmal mit Lúlú – unser Ziel ist der „Mirador“. Ein zweistöckiges Bamboo-Restaurant mit Aussicht auf den Sunset hinter einem funkelnden, orangeroten Rio Yacuma. Am Horizont legt sich der glutrote Sonnenball filmreif über die weite Savannen-Landschaft, ein paar Fledermäuse flatternd unrund durch´s Bild, einzelne Wattebausch-Wölkchen spiegeln sich wie gemalt im glitzernden Wasser, darin paddeln Kaiman&Co und erwachen langsam zum Leben, während wir ein kühles Bier zischen.

Bei tiefster Nacht hüpfen wir alkoholgeschwängert zurück aufs wackelige Boot, allen voran Lúlú, Herlan packt die Taschenlampe aus, andere Spots gehen an. Neon-orange reflektieren hunderte runder Reptil-Pupillen das Licht. Das Wasser ist übersät von glühenden Punkten. Lúlú, diesmal auf erkämpftem Sitzplatz in der ersten Reihe streift die eigene Kopflampe über, macht die „Tirriliilii“-Kampfansage. Kurze drei Minuten später folgt der nächste Streich, empfindliche Gehörattacke, oder sollte ich sagen: verstummtes Tirrilii, Lülü, dritter Akt.

Die Frequenz ist uns nur allzu bekannt, so wundert sich keiner im Boot über den kommenden Schrei, um ehrlich zu sein, alle bleiben erstaunlich ruhig. Nur Jújú ist jetzt wieder dran, volle Mitleidpunktezahl von allen: Cherie ist ein Riesenkäfer ins Auge geflogen, immer dem Licht hinterher. Wir können uns ein Grinsen nicht verkneifen, selbst Herlan schaut weg.

Zum Abendessen erscheint Madame in Ray-Charles-Montur: mit gespreizten rosa lackierten Fingernägeln plus farblich passendem Wickelkleid, toter Laune und dunkler Riesensonnenbrille nimmt sie theatralisch Platz. Als sie die Brille abnimmt, verschlucke ich mich. Ein dickes, blutrotes Glubschauge glotzt mich an, es füllt sich bereits mit Tränen. Sie kann die Ähnlichkeit mit den Sereres nun wirklich nicht mehr leugnen. Die Piranas schmecken ausserordentlich salzig, doch irgendwie vergeht mir auch der Appetit, als mich die Fische vom Teller aus und Lúlú mitleidig von gegenüber anstarren. Die Köchin hat die Fischpracht tutto kompletto ins heisse Öl geschmissen, wir können sie abknabbern: „Solo sin stomago – ah, y sin cabello, claro!“, meint Herlan trocken. (Nur ohne Magen essen, ach und auch ohne Kopf natürlich) – Ach so! Dabei hätte der doch so appetitlich ausgesehen. Prost Mahlzeit. Wir alle lassen Lúlú Platz zum Protestieren, schweigen still und lauschen...doch: nichts. Madame hat´s die Stimme verschlagen, ihr Vater fasst sich an den Bauch, dann an den Mund und poltert hinaus. Abgang Jean-Pierre.

Im Bett muss ich an meinen geistigen Spielstand Andrea:Bolivien denken und nehme eine Korrektur vor. Für jedes erstmalig in freier Wildbahn gesehene exotische Tier gibt’s einen Extrapunkt für das Land, also steht´s nun grandiose 8:9. Addiert man den spektakulären Jungle-Pharmacie-Lehrgang bin ich bei 10:9. Gar nicht schlecht, Bolivien!

Am letzten Tag steht noch Besonderes an, wir werden „Pink Dolphins“ sichten, hören können wir sie schon von Weitem: pfff, ein Wasserstrahl schießt mit viel Luft auf, eine etwas verkrüppelte Rückenflosse erscheint, leider ist die nicht so schön gebogen, wie die bekannten Flossen der Meerdelphine, dafür aber tatsächlich leicht rosarot gefärbt. Es folgt ein juchzendes „Tirrililii! Jújú-Cherie!“, Lülü ist heute wohlgelaunt. Jean-Pierre kotzt. Danach Jules.

Bei der Rückfahrt zum Camp - wir machen zwei Sicherheits-Busch-Toiletten-Stopps für Jean-Pierre, der aufgrund der lauernden Alligatoren etwas hektisch mit offenem Reißverschluss wieder auf unserer Boot-Bühne erscheint - hören wir erneut seltsame Töne. Diesmal ist das Geräusch eher quietschig, nein nicht der Reiher, auch nicht der blau-weisse Eisvogel (neu auf der Leinwand) nein, auch nicht Tirrililii! „Aqui! Mira!“, flüstert unser Guide und lenkt das Boot ganz nah ans Ufer, unter einen hohen Baum. Und da sehe ich sie...putzige Totenkopf-Äffchen tummeln sich im Gestrüpp, kreischen, gluckern, schreien. Eine lärmende Truppe, die überdrehten Kleinen. „Hey, Pippi Langstrumpf, fiede bi, fieda ba, fieda trallala“ ...ooooh, ich möchte auch eins haben! - Was, wenn jetzt eins „MAAAAAMMA!“ zu mir sagt! Dann behalt ich es aber!! Doch das Juchzen nimmt mir Eine vorneweg „Tirriliilii!!“. Die Affen fliehen.

Mehr Tierwelt geht ja gar nicht – Moment, gibt’s doch! Genau in der Sekunde fliegen etwa zwanzig lachsfarbene Flamingos in perfekter Formation über uns! Mh, also 12:9! Völlig glücklich über all das Gesehene kehren wir zurück, diesmal schweigt sogar Madame hinter dicker Brille, wir bekommen unser Almuerzo, das Mittagessen serviert und packen die Rucksäcke. Jetzt geht’s zurück nach Rurre. Ach, eins sollte ich wohl noch erwähnen: nun sind wir bei Gleichstand, 12:12. Ich musste leider satte drei Minuspunkte vergeben, denn bei all der hausgemachten bolivianischen Küche ist im Moment nicht nur Jean-Pierre, sondern die Hälfte unserer Reisegruppe magenkrank geworden - oder sollte ich sagen: „Bienvenidos à Bolivia“ - scheißt du noch oder brichst du schon?

Oder heißt es gar Pampers-Trip, statt Pampas-Tour?

SANTA CRUZ

Mittwoch, 24.08.2011

gÄhnende Lehre und erneute Redaktionsfreude

„Oh je!“ - Ohh-jeoh-jeeeeoooh...grandioses Echo prallt schräg zurück, von allen Rigips-weißen Wänden hallen meine Worte klangrein wider. Ohh-jeoh-jeeeeoooh.

Wir sitzen in einem gähnend leeren Wohnzimmer mit suboptimalem kurz-vor-dem-Umzug-Feeling im pulsierenden Santa Cruz. Am liebevoll gedeckten Plastik-Gartentisch mit passenden grünen Stühlen nehmen wir Platz und lauschen Jörgs Worten. Der fünfzigjährige Tourenveranstalter schaut uns müde aus grauen Augen an, seit drei Jahren lebt er mit Kind und Kegel in Boliviens größter Stadt. „Zweimal haben sie mir innerhalb von drei Wochen das Haus ausgeraubt“, entschuldigt er sich über die fehlende Möbelgarnitur. „Beim ersten Mal hat´s den Computer erwischt, die Schmuckschatulle meiner Frau, Kaffeemaschine, Küchengeräte, Bilder, Stereoanlage, Fernseher. Die kleinen Dinge eben. Die Anzeige bei der Polizei hat nichts gebracht, wir seien ja nicht die Ersten“. Die Woche drauf dann das volle Programm: um 9.00 Uhr vormittags - beide Eheleute hatten zehn Minuten zuvor das Grundstück verlassen - rollt ein großer Lieferwagen an. Stück für Stück, Teil für Teil werden alle Möbel, Gefriertruhe, Waschmaschine und Geschirrspüler hinausgetragen. Ein prall gefüllter, mannshoher Kühlschrank verschwindet ebenso wie ein Rasenmäher und der frisch nachgekaufte, nigelnagelneue Computer im Arbeitszimmer. Professionelle Diebstahl-Elite am Werk - trotz vergitterten Fenstern und fünf Metallschlössern an der Tür.

Abends kommt seine Frau von der Arbeit in der Redaktion nach Hause und bereitet uns ein saftiges Dinner, das 10-monatige Baby gluckst zufrieden auf Jörgs Schoß. „Ob wir der lokalen Zeitung ein Interview geben würden?“, fragt Jörg zwischendrin, „was ihr macht ist ja hier nicht so an der Tagesordnung!“, seine Frau würde das gerne gleich für morgen organisieren. Klar, warum nicht! So sitzen wir tags darauf in der dunklen, antiken Empfangshalle der „El Deber“, ein Reporter empfängt uns am blumengeschmückten Tisch und rattert bolivianisch drauf los. In der Redaktion geht’s quirlig zu, den Müttern ist es erlaubt, ihre Kinder mit zur Arbeit zu bringen, Kindergärten gibt es kaum. Der Journalist findet es unglaublich, 13 Monate in einem Auto zu verbringen, hunderte von Fragen stellt er uns, manches kommt uns spanisch vor, doch wir antworten einigermaßen flüssig. Nach dem obligatorischen Foto vor dem Verlag machen wir uns wieder auf die Socken, äh, Reifen.

SAMAIPATA

Donnerstag, 25.08.2011

Raster-, Äh, Pflasterfahndung

Unser Weg wird über diverse Apotheken, in denen meine Emotionen beinahe überschwappen, schlussendlich nach Samaipata führen. Allererste Sahne und nominiert für den Comedy-Preis 2011 wird hiermit meine unglaubliche Suche nach extravaganten Heftpflastern und exotischen Hefe-Tabletten! Meine Pupillen gucken schon nach der Felix-und-Paola-Verstehen-Sie-Spaß-Kamera im Eck, doch hier ist purer, unvermischter Ernst angesagt!

Vollgepumpt mit guter Stimmung starte ich optimistisch in der ersten größeren Apotheke der Stadt. Dort wird mir sogleich äußerst mürrisch ein luschig-pragmatisches „no hay, amiga“ von der Apothekerin mittleren Alters, Marke „lustlos-gleichgültig“ entgegen geschmettert. Natürlich ohne nachzusehen, den Computer zu befragen, oder die Kollegin zu konsultieren. Danach wendet sie sich ohne Umschweife dem Fernseher links oben zu. Progressiv frech!

Sogleich verspüre ich die absolute Dominanz negativ aufschäumender Gefühle in mir, normal geht das ja nicht so schnell, doch „gibt´s nicht, Freundin“ hieß es schon vier heiße Spätnachmittage lang in Rurre (auf der Suche nach Schuhen in der unfassbaren Größe 38). Dort haben unterschiedlichste, nicht verwandte Ladenbesitzer, die allesamt im Bett (!) hinter der Theke lagen, minimal-inversiv aufgeschaut, um mir achselzuckend „no hay“ zu flüstern. Nicht, dass ich es gewagt hätte, in der Tabuzone „Mittagsruhe“, von 12.30-14.30 Uhr dort aufzutauchen!

„No hay, amiga“, sagt mir nun auch hier im zweiten Laden eine unengagierte Pharmazie-Angestellte, als ich nach den Tabletten frage. Laut Langenscheidt-Lexikon müssten die „Recipientes de levadura“ heißen, doch ich ernte nur laxes, mechanisches Kopfschütteln am Schalter. Heftpflaster gibt’s auch nicht, der Blick geht an mir vorbei ins Leere, mir scheint, hier habe ich einen vakanten Denkapparat vor mir, über ihre Freundlichkeit kann ich mich auch nicht beschweren. Bei der sechsten „Farmacia“ - auch hier bleibt gute Laune ein Fremdwort - dann der Durchbruch. Eine ältere Frau vom Fach verbessert knurrig, es hieße: „Levadura de cervezza!“(Bierhefe), aber, sie bedauert bierernst „no hay“. Ne, war klar. - Vielleicht hat sie aber Pflaster? Wieder ziehe ich mein Beispiel-Hansaplast wie schon die fünf Male zuvor aus der Hosentasche, wieder schlurfen ein paar Helferinnen an.

Vier sauertöpfische Apothekerinnen blicken verstört, anschließend wird synchrones Headbanging veranstaltet, beinahe fallen die dicken Brillen simultan von den hohen Nasen. „No se. Que es?!“ (ich weiß nicht, was ist das?) - Nun tendiert meine eigene Laune im Mittelwert empfindlich gegen den Nullpunkt. Was das ist??? - „Esparadapos? Curitas?“, so sagt jedenfalls Herr Langenscheidt dazu. Heftpflaster halt. Für Wunden, Verletzungen, Aua´s. Kann doch nicht so unbegreiflich sein.

Es folgen vier ernüchternde „No hay, amiga!“. Das gibt’s doch nicht!
Wir fahren die siebte „Farmacia“ an. Erst dasselbe Spiel, also Biertabletten, die gibt’s schon, aber halt nicht im Moment, aber was sollen denn nur Heftpflaster sein? Man hätte Tapes, Leukoplast-Klebeband auf Vorrat. Auch Wattebäusche oder Kompressen. Ah, verstehe, also im Bausatz, bastel´ dir das Hansaplast! Immerhin sind hier zur Abwechslung mal kundenorientierte Auffassungsgabe und behagliche Höflichkeit die Eckpfeiler des Geschäfts. Gemeinsam denken wir scharf nach, die freundlichen Mädels nehmen sich Zeit, überlegen fieberhaft und suchen nach einer Lösung für mein Problem.

Dann der Geistesblitz von Apotheken-Perle Maria. „Aaah! Si!“, höre ich sie plötzlich singen, „aaaqui!“ sagt sie und wir anderen gucken erwartungsvoll. Da zaubert sie einen Streifen „Band Aid“ aus dem hintersten Schubladen-Regal hervor, das Finger-Pflaster vom amerikanischen Hersteller. Ich kann mein Glück kaum fassen und wage doch, noch mehr zu verlangen: „hay mas grandes tambien?“ (gibt’s auch Größere?). „No! No hay, amiga“, folgt entrüstet. Na egal, Pflaster ist Pflaster, ich bin froh, welche in Händen zu halten und kaufe den gesamten Bestand der Apotheke auf. 12 Stück.
Weiter geht’s über staubige Straßen und zweifelhaft-trashige Auto-Fähren Richtung Süden, ein wenig komme ich mir vor wie im modifizierten Coconut-Witz: "Dear passengers, Capt'n speaking. Welcome on this flight with Coconut Airlines." Pause "Dear passengers. Please, look out of the right window - the right engine is burning." Pause "Dear passengers, please, look out of the left window - left engine is burning." Pause "Dear Passengers, Capt'n speaking. Sorry, this airplane has to land on water now. All swimming passengers: please change to the left seat rows, all non-swimming-passengers please change to the right seat rows!" Pause. "Dear Passengers, Capt'n speaking. To all the passengers on the left seat rows: now swim!! To all the other passengers: thanks for flying with Coconut Airlines."
Nun ja, Coconut-Ferries erhält ein paar Shipping-Credits von mir, aller Skepsis zum Trotz erreichen wir trocken das andere Ufer. Viele Brücken, Abzweigungen und LKW-fahrende Koka-Backenleistungssportler später erreichen wir Samaipata, dort gibt’s Ruinen zu sichten, „El Fuerte“, der verheissungsvolle Name. Schon toll, groß und nett, doch wir sind abgelenkt, auf dem Weg wird klar: einem von uns Beiden geht’s beschissen, Georg hat sich über die letzten Tage verzweifelt mit den letzten Hefekompretten hinweggehangelt, nun ist Schluss mit lustig!

Bei der prachtvollen „Finca Vispera“ kotzt er sich großzügig in Laune, dort ist es zwar etwas kostspielig, aber die Toiletten sind exquisit. Und das ist alles, was gerade zählt. In einer guten Stunde, natürlich ohne Frühstück, machen wir uns am nächsten Tag auf in die Landapotheke um´s Eck, mir schwant schon Böses. Doch wir haben Glück, es findet gerade Doktor-Sprechstunde statt und Schatzi tritt vor. Aufgrund seines desaströsen Gesundheitszustands sind wir mittlerweile schon bei den isotonischen Getränken angekommen, Schwester Andrea weiß Bescheid: auf einen Liter abgekochtes Wasser einen halben Teelöffel Salz, acht TL Zucker und etwas Orangensaft. Der Elektrolyt-Haushalt ist trotzdem im sprichwörtlichen Arsch. Der fließend englisch-sprechende Arzt weiß Bescheid: „That´s Bolivia. It´s salmonellosis, parasites or worms“ mit einem Augenzwinkern fügt er hinzu „Bolivia is their main holiday-destination. I give you antibiotics for 10 days. If you are still feeling bad after two weeks, take another anti-worm-medicine.“ (Es sind Salmonellen, Parasiten oder Würmer. Bolivien ist ihr Hauptreiseziel. Ich verschreiben Ihnen 10-Tages-Antibiotika, wenn Sie sich danach immer noch schlecht fühlen gibt’s ´ne Wurmkur). Da hat sich die Hefetabletten-Suche nun auch erledigt.

So harren wir der Dinge, drücken Daumen und Toilettenspülung, halten das noble Flausch-Papier griffbereit und sind glücklich über bereits erwähnte Luxus-Sanitäranlagen...

VALLEGRANDE + LA HIGUERA + RUTA DEL CHE

Freitag, 26.08.2011

viva la Revolution!

Auf dem groben Holztisch vor uns liegen diverse Bücher ausgebreitet, Heftchen, Bildbände, Taschenbücher kreuz und quer, bunte Lesezeichen fallen heraus. Olivier blättert sie mit schneller Hand durch, stoppt hier und da. Diesmal ist unser Schauplatz die „Posada Casa del Telegrafista“ (Camping € 4) in La Higuera; genau hier, in diesem Haus saß vor ungefähr 44 Jahren auch Ernesto Che Guevara.

Georg geht’s wieder blendend, aufgrund der eingefahrenen Antibiotika ist er geradezu übermütig, was die Essensaufnahme an dubiosen Marktständen betrifft, das Gürtelgefühl stimmt, Schatzi ein Quell der Lebensfreude. Leidenschaftlich erzählt uns der hiesige Hostel-Volunteer im Telegrafisten- Haus mit Blick auf blühenden Mustergarten und grasendes taubblindes Pferd die gesamte Che-Historie. Olivier sprudelt drauflos, schmettert uns Fakten, Daten, Geschichte ins Gehirn - bildhaft angereichert mit Guevaras Tagebuch-Aufzeichnungen, Zeitschriftenartikeln und Hunderten von Fotografien. Schwarz-Weiß lacht uns ein junger Ernesto ins Gesicht, wir sehen ihn als coolen Typen auf dem Motorrad, wenig später mit dicker Zigarre, sexy Dreitagebart und kultigem Barrett. Dann wieder im Kreis seiner Familie, Frau und drei Kindern, händeschüttelnd mit Fidel Castro und schließlich als charismatischen Anführer der Guerilla-Gruppe im Dschungel Boliviens, umringt von Anhängern. Jetzt ganz die Pop-Art Ikone auf dem roten T-Shirt /Kaffeetasse/Plakat/Baseballcap.

Auf der „Ruta del Che“ fahren wir zwei inspirierende Stunden lang durch das stereotype Panorama-Postkartenmotiv „Berglandschaft“, im Ort Vallegrande beginnt die Route, in La Higuera endet sie. Zwölf Tage und Nächte war der 39-jährige Ernesto hier auf der Flucht, 16 treue Kameraden an seiner Seite. Über 2000 Militärs können ihn dann doch aufspüren, im kleinen Dorf La Higuera wird er im Oktober `67 umzingelt, festgenommen und tags darauf im „Schoolhouse“ mit drei Schüssen in Hals, Brust und Herz exekutiert. Nun befindet sich ein kleines Museum dort. Mehr eine Pilgerstätte für Che-Fans. Das kleine von aussen unspektakulär wirkende Haus an der ungepflasterten Staubstraße ist vollgestopft mit Fotos, Malereien, Ideologie-Leitsätzen, Bildern, Kerzen, Blumen, sogar Reisepässe und Liebesbriefe sind an die Wände geklebt.

Zum Schlauerwerden hier, wie immer an Stellen wie diesen, ein kleiner geschichtlicher Exkurs, die Che-Vita in Kürze: Am 15.Juni 1928 in Rosario geboren wächst Ernesto Guevara glücklich behütet als Lieblings-Sohn mittelständischer Eltern in Argentinien auf und beginnt nach der Schulausbildung ein medizinisches Studium. Nach einem bedeutungsschwangeren Motorradtrip mit seinem Freund Alberto Granado durch das unterdrückte Südamerika entscheidet sich der 23-jährige bald darauf, eine Revolution für die armen, ausgebeuteten Bauern anzuführen.

Durch das Reisen im Land, durch viele Abendessen, Einladungen und Gesprächen - sagen wir mal so, die beiden Buddies haben sich ziemlich durchgeschnorrt in den acht Monaten - bekommt Ernesto gute Einblicke in das tägliche Leben der Campesinos (Bauern). Mitleid, Wut und Gerechtigkeitssinn gewinnen die Oberhand, bereits während des Trips wird er von Allen nur freundschaftlich Kumpel, „Che“ genannt. Bald heiratet er seine erste Frau, eine peruanische Sozialistin namens Hilda Gadea, er lernt Fidel Castro kennen, sie trinken ein Bierchen zusammen und merken: „Hey! Wir haben da ja die gleichen Ideen, zudem sind wir ja beide ziemlich charismatisch, also lass uns da mal was anzetteln!“. Die weltweite sozialistische Revolution wird in Angriff genommen!

In den späten 50er Jahren wird Guevara dann zum Workaholic-Multitalent, arbeitet an allen Fronten, ist Arzt, Militärbefehlshaber und Castros´ Ratgeber in politischen Fragen. 1959 wird er sogar vom Fidel zum Präsident der „Banco National del Cuba“ ernannt. Nach einem Job als Wirtschaftsminister und Projektleiter im Objekt „gerechte Landverteilung und Industrieverstaatlichung“ überzeugt er Castro dazu, Cuba mit anderen kommunistischen Nationen zusammenzutun. Aleida March tritt auf Ernestos Liebesbühne, sie wird seine zweite Frau und Mutter gemeinsamer vier Kinder. Dann wird´s ein bisschen mysteriös und neblös, es gibt ein Zerwürfnis mit Fidel. Kein Mensch weiß so ganz genau, warum der Che 1965 verschwindet, wahrscheinlich will er seine marxistischen Ideen nach Afrika bringen, und Unterstützung für seine Guerillas auftreiben. Er haut angeblich sein Servus unter einen „Abschiedsbrief“, in dem er „freiwillig“ auf alle Ämter und die kubanische Staatsangehörigkeit verzichtet, um sich wieder dem "Kampf gegen den Imperialismus" zu widmen. Der fiese Fidel liest den Brief öffentlich vor, als sein Freund, der Che, grad bei der Auslandsmission weilt. Er fällt Kumpel Ernesto also pervers hinterlistig in den Kommunisten-Rücken und stellt klar, dass seine afrikanischen Aktionen nicht von Cuba unterstützt werden.

Naja, als Ernesto dann wieder nach Cuba kommt, so um 1965 rum, ist er natürlich beleidigt, fühlt sich hintergangen und nimmt den nächsten Flieger zurück nach Lateinamerika. Im Folgenden geht’s dann los: die Guerillabande wird gegründet, Che hat von allem anderen die Schnauze voll, er überzeugt immer mehr unterdrückte Bauern, sozialistische Freunde und allgemein Unzufriedene, sich ihm anzuschließen und eine soziale Rebellion in Südamerika durchzusetzen Dann nimmt das Schicksal seinen Lauf, am 8.Oktober 1967 wird er in der Nähe von La Higuera gefangen genommen, Che war damals natürlich noch nicht das populäre T-Shirt-Gesicht auf rotem Hintergrund, sondern vielmehr der meistgesuchte Terrorist seiner Zeit. So wird der erst 39-Jährige in ein Schulzimmer der Provinz gebracht, wo man ihn direkt am nächsten Tag hinrichtet.

Damit sich kein Kult um den toten Rebellenführer entwickelt, wird der Leichnam erst nach Vallegrande geflogen und im dortigen Krankenhaus-Waschraum aufgebahrt - Journalisten können so den Tod bezeugen und darüber weltweit berichten - am gleichen Tag noch wird er auf der Flugzeuglandebahn verscharrt, 1997 wieder ausgebuddelt und nach Cuba transportiert, wo er offiziell neu in Santa Clara de Cuba begraben wird.

Natürlich bin ich auf den Besuch hier vorbereitet und habe mir pflichtbewusst die Tagebuchaufzeichungen „Motorcycle Diaries“ im Taschenbuchformat reingezogen. Ich bin Libro-Socia beim ziemlich smarten Che, der locker vom Hocker erzählt und sich schon mal ordentlich auf die selbstironische Schippe nimmt, Beispielsatz: “Die Leute halten uns für Helden, weil wir hier ohne Geld, Essen oder Decken bei Minusgraden unseres Weges gehen. Ich denke heroisch ist der falsche Ausdruck. Idiotisch trifft eher zu!“.

Abends begleiten wir den sympathischen Olivier zu seiner Stammkneipe im ruhigen Lehmdorf La Higuera und lernen bei einem Bierchen und schmeichelhaftem Kerzenschein Pablo Escobar höchstpersönlich kennen. „Si, en verdad, eso es mi nombre. Broma de mis padres, pero me gusta...“, nein, ganz Echt, meint Pablo, sein voller Name lautet nun mal so, warscheinlich ein kleiner Scherz seiner Eltern. „Ja, ja“ entgegnen wir lachend: „Gutes Versteck, hier. Kleines Dorf, nette Kneipe. Gut gemacht, Pablo. Wir sagen´s auch keinem! Wann kommt denn dein T-Shirt auf den Markt?“

SUCRE

Sonntag, 28.08.2011

Widerstand ist zwecklos

„Cuatro bombons ‘crema de blanco‘, cinco ‘rollos de coco‘, dos ‘waffles negros‘, tres pralinés ‘leche de crema‘, tres 'dulce de leche‘... y, momento, ah, si un ‘marshmellow banado con chocolate negro‘!“. Yammie! Ich bin umringt oder sollte ich sagen umzingelt von verlockenden Desserts, kunstvollen Pralinés und handgeschöpften Schokoladentafeln. Widerstand zwecklos!

Traumhafte, formvollendete, makellose Meisterwerke! Meine Augen können den zartherben Macarons, verführerischen Nougats, süßen Biscuits und zuckrigen Karamells nicht widerstehen! Schwupps, da bestellt mein Mund schon selbstständig, die Lippen bewegen sich von ganz allein, der Verstand ist ausgeschaltet, der Gaumenschmaus regiert! Delikat, köstlich, unwiderstehlich! Man soll doch auf sein „Bauchgefühl“ hören...

Eine unbekannte höhere Kraft hat mich hierher gebeamt, umgeben von Köstlichkeiten stehe ich nun im Herzen Sucre´s (Nomen est Omen) in der Chocolateria „Para Ti“ (Für Dich), und alles, alles, alles ist „para Mi“! Ich muss jetzt ganz stark sein, es kostet mich beinahe übermenschliche Kräfte, nicht den ganzen Laden aufzukaufen. Bei 0,15 Euro pro handgemachter Praline muss ich schon an mich halten. Artisanale Kunststücke überall, mir läuft schon im Geschäft das Wasser im Munde zusammen, doch jetzt, da ich das erste Teilchen schmecke, schmelze ich dahin! Bin verzückt, meine fünf von weißer Schokolade umhüllten Kokosbällchen passen perfekt ins Stadt-Bild, Stilleben mit Coco. Sucre´s prunkvolle zuckerweisse Torbögen, bewachsene Balkone und koloniale Gebäude lassen uns ein paar Tage in der Stadt verweilen. 1991 erklärte die UNESCO die City zum „Weltkulturerbe“, es finden sich farbprächtige indigene Märkte, in denen so ziemlich alles verkauft wird, was man brauchen könnte, genauso wie zahlreiche modern-avantgardistische Schicki-Cafés und heimelige Restaurants, Shops mit Tracht-Faltenröcken oder aber teueren Armani-Anzügen und Chanel-Handtaschen. Die Plazas sind großzügig angelegt, kononial gestaltet und mit viel Blumen geschmückt. Früher offizielle Hauptstadt Boliviens - La Paz hat ihr den Titel weggeschnappt - ist Sucre in den Herzen der Einwohner nie auf Platz zwei verdrängt worden, auch weiterhin tagt der oberste Gerichtshof des Landes in dieser Stadt. Ist ja auch viel schöner hier.

Ein bisschen erinnert mich die City in Flair und Atmosphäre an ein hochsommerliches München. Gute Laune, laue Luft, romantisches Kopfsteinpflaster, ausgelassene Studenten, kleine Bars, coole Clubs, hervorragende Restaurants, viel Terracotta, grandiose Dachterrassen und geile Stimmung! Nur das Preis/Leistungsverhältnis ist etwas entspannter: Für 12 Bolivianos (1,20€) beißen wir in schmackhaften Gyros, 10 Bolivianos kostet die vegetarische Falavel, 40 ein Lomo (Rindfleisch) mit Papas Fritas (Pommes), das 1-Liter Bier gibt’s für 12 dazu. Ach ja, die ganze Tüte Chocolatines hat mich nur 25 Bolivianos gekostet. Inititative: Pro günstigeres Aus-gehen! Halt, Zurück-gehen! Uno para ti, uno para mi, para mi para mi...

SALAR DE UYUNI

Freitag, 02.09.2011

happy hour an der salzbar

Ich stehe auf, strecke mich, steife Glieder, kalter Kopf. Bibber-elend-eiszapfig. Kalt! Schnell die drei Fleece-Decken und den Schlafsack zur Seite geschlagen, aus dem Bett gekraxelt, Daunenjacke über die zitternden Schultern geschmissen, raus aus dem Auto, ein paar Aufwärmschritte gehen. Meine hungernden Lungen saugen die dürre, kalte Luft ein, die absolute Stille umgibt mich. Eine glatte Null auf dem Volume. Bis ich mich bewege.

Meine Cornflakes-Schritte crackern auf dem Salz, die elfenbeinweiße Kruste kracht wie Erste-Güte-Müsli unter meinen Füßen. Das gigantische Giraffenmuster zieht sich wie eine glitzernde Deko-Hülle über die gesamte Fläche der 12000 km² der größten Salzwüste der Erde. Sie liegt auf knackig-kühlen 3653 Metern über dem Meeresspiegel.

Es wurde bereits dunkel, als wir gestern in der Stadt Uyuni einfuhren, eine eher fade Stadt, die allerdings das Eingangstor zum Salar bedeutet. Mit Malin und Espen sind wir nun wieder zu viert unterwegs, die beiden Norweger stießen in Sucre zu uns, nach der großen Wiedersehensfreude war schnell klar: wir fahren wieder gemeinsam weiter! Nun stehen wir vor der Einfahrt zum Salar de Uyuni, es ist kurz nach achtzehn Uhr, die Sonne geht gerade unter und zaubert phantastische Lichteffekte auf das nasse Salz, die doppelte Glut, psychedelisch irreal, wo ist oben, wo unten? Ein kleiner visueller Vorgeschmack! Wir sliden über das papayafarbene Eis, äh, Salz und finden inmitten des saftig funkelnden Pfirsich-Meeres einen optimalen Platz zum Campen. Die Nacht wird Minus 12 Grad haben, doch der lupenreine Sternenhimmel macht so einiges Wett. Wir haben noch Glück, es kann hier schon mal locker-flockige Minus 25 Grad sein! Trotz der (für hiesige Verhältnisse) milden Temperatur erwachen wir früh in unserer fahrbaren Kühltruhe.

Meine Schritte könnte man nun gut für den neuen WASA-Knäckebrot-Spot benutzen, es ist 7.50 Uhr und ich knuspere mich zurück zum Auto, Frühstück ist angesagt. Das Wasser im Tank ist gefroren, also muss die abgefüllte Flasche im Kühlschrank die Basis für den Cafe bilden. Schon bizarr, im Freezer ist es wärmer als Draußen. Zum Heißgetränk schneide ich mir ein paar Nutellascheiben aufs gefrorene Brot, die Eisblumen stehen schon auf dem Tisch, an Butterstreifen ist nicht zu denken. Ich öffne meinen „Badschrank“, der kleine Spiegel beschlägt sofort. Also warten. Ich schmiere eine dicke Schicht Nivea-Creme ins frostige Gesicht, die wird sogleich absorbiert, fluff, weg. Die Luft ist in etwa so trocken wie zwei Monate alter Zwieback.

Wir warten auf die Sonne. Die wird in etwa 30 Minuten ihr tägliches Debüt geben, den Salar kraftvoll mit Licht und Wärme übergießen und das Leben kann beginnen. Also meins. Ich bekomme Cafe, ein lupenreines Spiegelbild und streichfähige Schokocreme aufs Brot.

Nach dem Frühstück brechen wir auf und genießen puristisches Design in zwei Farben: dominierendes Deckweiß mit strahlendem Kornblumenblau bricht sich in unseren Pupillen. Wie in Trance fahren wir, Salz wohin das Auge blickt, darüber der weite Himmel. Perlweiß-Stahlblau. Überall. 360 Grad. Wölbung am Horizont. Purer Erdball. Kein Gefühl für Raum und Zeit, wir schweben, kein Strauch, kein Haus, nichts, das vorbeizieht und die Geschwindigkeit vor Augen führt. Wie auf dem Laufband im Fitness-Studio. Nur ohne Eigenmuskelleistung und hechelnde Menschen mit Schweißachseln.

Das helle Salz-Band läuft reibungslos mit 100 Sachen, der funkelnde Globus dreht sich unter unseren Reifen. Knisternde Atmogeräusche, bis wir an die Isla de Pescadores stoßen, eine überraschend schöne Insel inmitten all der Kargheit, frühlingsgrüne Kakteen wachsen stachelig darauf, Hasen mit Känguruhschwanz hüpfen mit flauschigen Lamas um die Wette. Die Körper warm in North-Face-Jacken, Mützen und Thermohosen (1000 Dank an die süßen Schwägerinnen!) gehüllt spazieren wir auf der Insel, die Sonne entwickelt langsam ihre Kraft und so kommen wir bei dem Rundgang fast ins schwitzen, das Thermometer zeigt plötzlich warme 20 Grad an! Gut, also wieder schichtweise ausgewickelt und weiter geht die Fahrt.

Nach zwei Stunden Blau-Weiß-Rausch stoppen wir inmitten der transzendentalen Psycho-Fläche und machen demonstrativ-unwirkliche Fotos, wir fühlen uns wie auf Salvador Dali´s Leinwand, Berge verschwimmen, Felsen verlaufen, würde mich nicht wundern wenn zwischen off-white-Salzkruste und azurblauem Himmel plötzlich aus einem Zuckerwatte-Wölkchen die zähe Uhr tropft.

Die verdammt kalte Nacht verbringen wir im Windschatten der Insel, treffen morgens Mauricio, der lustig und mit leichtem Gepäck zum Frühstück vorbeiradelt. Der 32-jährige Kolumbianer will im Januar allein durch seine Beinkraft in Patagonien, Ushuaia sein. Er hat auf der anderen Seite der Insel im Einmann-Zelt gecampt, leider weder Wasser noch Essen übrig und wirkt ein wenig verfroren. Wir füllen ihm Trinkbares ab, geben ein paar Bananen und Nudeln ab und sind nach dem Besuch demütig leise. Ich will mich ab sofort nicht mehr beschweren. Großes Camper-Ehrenwort. So ein Dauerreisen ist ja auch kein Sofatestliegen, wusste ich ja, auch wenn sich manchmal schon das warme, weiche Flauschi-Heimatbett zwischen die frostig-salzige Gedankenkruste hier schiebt.

Wir düsen weiter, verlassen die Wüste, arbeiten uns in den staubigen Südwesten vor. Schon 25 km östlich der chilenischen Grenze befindet sich die betörende Laguna Colorada, die einen neuen Höhenrekord für uns bedeutet, 4900 Meter, und der Toyota läuft wie geschmiert.

Die Sonne überflutet den Altiplano, als wir die Lagune erreichen - Farbflash! Fuhren wir bisher durch das galante Schiefergrau einer kargen, wilden Urlandschaft, so wird nun der fulminante Acryl-Farbeimer über die andine Hochebene geschüttet: dunkle Schokoraspel-Berge garniert mit cremeweißen Sahneklecksen im Chrom-Terrain umrahmen die flammend-Erdbeer-rote Laguna, hunderte prachtvolle Flamingos tänzeln fischend darin herum, saftgrüne Grasbüschel stehen am Ufer trotzig auf, ein ganzer Obstkorb voll schimmernder Farben changiert im See (ja, ich habe Hunger). Mandarin-leuchtendes Wasser wandelt sich vor unseren staunenden Augen in strahlendes Himbeer-Pink, wird im Laufe des Nachmittags von lackigem Pflaumen-Blau abgewechselt und sagt in sattem Auberginen-Lila Gute-Nacht (muss jetzt was essen). Algen, Mineralstoffgehalt und Lichteinfall sind die zauberhaften Komponenten des einzigartigen Farbspiels.

Zum Frühstück überrascht uns der See mit intensivem Granatapfel-Rot in das sich eine Spur Holundersaft mischt. Die grüne Bordüre voll Schnittlauchgräsern und maisgelben Schwefelblumen rundet das Gemälde zum Frühstück gemüsehaft ab, der königsblaue Himmel bildet das perfekte Passepartout (brauche aufgrund des kalten Wetters noch mehr Essen!).

Wir fahren durch Cashew-förmige Hügel auf einer surrealen Mondlandschaft, zarte caramellfarbene Vicunas grasen friedlich, sepiabraune Vulkane ragen triangelförmig empor, die Berge scheinen wie gekämmt, der Schnee liegt in dünnen Strähnen gleichmäßig verteilt darauf, die Szenerie gleicht einer urzeitlichen Saga.

Weit hinten tauchen dicke Nebelsäulen auf, Geysire sprudeln wild, umringt von honigfarbenen Mineralienblüten qualmen Fumeroles puderblau. Der lästige Wind pfeift auf 5000 Metern von allen Seiten, es ist klirrend eisig. Die dampfenden Hot Springs kommen wie gerufen, an den Aguas Calientes Polques springen wir in das erlösende 35-Grad-warme blubbernde Wasser, schmeißen Daunenjacken und Mützen von uns, die Zehen tauen auf, der Blick schweift über die Landschaft... ich liege am Zuckerrand eines blubbernden Cocktails aus Batida de Coco, Cointreaux, Blue Curacao und einem Schuß Blaubeerlikör, einmal mit dem Silberlöffel umgerührt, obendrauf ein Klecks Sahne, das Crushed Ice schmilzt langsam. Mitten in der Happy Hour! Rein farbtechnisch gesehen stimmt das so, eine Symphonie aus Creme-Türkistönen inklusive heller Schneeberge und glitzernden Eiswürfeln umgibt mich, doch dieser fiese Wind passt nicht ganz so ins übliche Bikini-Cocktailfeeling!

Noch während wir bei schneidendem Sturm in unsere Handtücher gewickelt zurück zum Auto laufen, versuche ich mich aufs Äußerste in das tropische Bild zurückzuspulen. Minus zwei Grad sind einfach nicht mein Ding. Schon gar nicht im Bikini.

Das gibt Negativpunkte im Mental-Game! Doch überraschenderweise heißt es beim Endstand, jeweils ein Negativpunkt für die nicht aufzutreibenden Hefetabletten und Georgs erneute Salmonellen-Fete im Bauch, sowie die schneidende Ultrakälte in der Salzwüste - dafür wiederum drei Pluspunkte für die Ruta del Che, die handgekugelten Pralines in Sucre und die urzeitliche Schönheit der Salar-Gegend, ergo: Andrea:Bolivien 15:15, und Game over. Morgen verlassen wir das Land Richtung Chile.

An der Laguna Verde schlagen wir unser siebtes und letztes Schlafgemach im Nationalpark Eduardo Avaroa auf, mit vorherigem Blick auf treibende Eisschollen träume ich mich zurück in meinen lieblichen Cocktail, versuche mit größter mentaler Kraft, die hochkriechende Kälte zu verdrängen, die Nebelwand, die mein Atem im Auto produziert zu ignorieren, und mich an den fröhlichen Formen der Eisblumen vor meinen sich langsam schließenden Augen zu erfreuen.

Bacardi Feeling, it´ never been so easy, when I´m dreaaaaaming...

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